Flucht 2.0 – und wovor flüchtest du?

Der Literaturkurs der Q1 hatte sich eigentlich schon damit abgefunden: Corona in Herbst und Winter – Theaterspielen mit Maske und ohne Mimik – keine körperliche Nähe zu den Mitschülern – stattdessen Einzel-Bühnen-Erfahrung und das Spiel mit trennenden Spuckwänden – im Hintergrund summen die Virenfilter, bei gutem Wetter begleiten Laubbläser und die Geräusche der Mitschüler auf dem Schulgelände unsere „Outdoor-Stunden“…

Die obligatorischen Besuche der professionellen Theaterstücke – „Touch“ bei unserem Kooperationspartner Theater MARABU in Bonn und „Die Weiße Rose“ im Jungen Theater Bonn – sind allerdings in jeder Hinsicht inspirierend. Was können wir trotz der Einschränkungen machen? Gehen wir das Risiko eines „großen Stücks“ ein? Drehen wir Filme in Kleingruppen? Gibt es eh keine Aufführung? Spielen wir ein „Maskenstück“?

Resignation und Flucht waren keine Option – obwohl … Moment … warum eigentlich nicht?

Eifrig sammelte der Kurs Ideen zum Thema „Flucht“, die dann in Form einer Themen-Collage in zehn kleinen Theaterstücken mit selbstgeschriebenen Dialogen umgesetzt wurden.

Menschen laufen nun einmal oft weg – vor sich selbst und den eigenen Schwächen (Anastasia Niedmann, Emma Lucaci), unangenehmen Situationen, vor Mitmenschen, vor Fremden und Vorurteilen (Noah Mokros, Matti Stamm), der Familie, der Schule (Quirin Muser, Marie Rex, Simon Dedenbach), vor Verantwortung und der eigenen (beruflichen) Zukunft (Anna Kaleß, Jannik Becker, Leon Mani), dem Wohnort, sexuellen Orientierungen und anderen Meinungen, den Erwartungen der Gesellschaft (Alicia Nittmann, Lina Spielvogel, Noah Mokros), vor Naturkatastrophen, Klimaveränderungen und Krieg. Vor allem die aktuell aus der Ukraine flüchtenden Menschen und ihre Schicksale berührten uns als Kurs sehr, auch wenn wir nicht wussten, wie wir das angemessen und würdig auf die Bühne bringen sollten…

Schließlich war nicht jede Flucht, die die Schülerinnen und Schüler ausarbeiteten, negativ. In gewissem Maße kann es auch guttun und befreiend sein, zu fliehen und neu anzufangen: 

Fantasiewelten (Jil Marie Becher sowie Anika Reetz, Oliver Schmoll), Party, Alkohol und Drogen (Johanna Beck, Emily Stauf, Meeri Baumer), PC-Spiele zocken und Junk Food (Carsten Malalla, Rens Dankert) , Sport und Fitness (Felix Baumgarten, Lina Spielvogel),ganz unterschiedliche Aspekte und Facetten wurden dabei aufgegriffen.

Es folgte die intensive Arbeit an unserer Themen-Collage, vor allem, als kurz vor Ostern mit dem Fall der Maskenpflicht die Hoffnung stieg, nach über drei Jahren wieder eine Literatur-Aufführung am AK erleben zu dürfen. Ideen wurden verworfen, ersetzt, immer wieder überarbeitet, Technikkonzepte entworfen, Videoprojektionen gedreht, Bühnenbilder gezeichnet, Kostüme und Requisiten besorgt, Feedbacks angenommen und umgesetzt, Ängste und Selbstzweifel überwunden, Stimmen lauter, Körper ausdrucksstärker, Storys und Figuren differenzierter und tiefgreifender.

„Freundschaft bedeutet, wenn jeder alles in den Ring wirft, was er hat.“ Das Ergebnis dieser Lebensweisheit konnte sich sehen lassen! Motiviert wurde stundenlang geprobt, weder Nachmittage noch Samstage waren vor den Schauspielfreudigen sicher, Plakate wurden kreiert und aufgehängt, Programmhefte erstellt, Licht- und Tontechniker kämpften sich durch Schalter und Optionen, Durchsagen und Anmoderationen wurden entwickelt, Freunde und Familien wurden eingeladen und dann war es tatsächlich soweit: Am Dienstag, den 14.06.2022 um 19 Uhr öffnete sich endlich der Vorhang und die 85 Zuschauer, die der Veranstaltung einen würdigen Rahmen gaben, durften das Stück „Flucht 2.0.“ genießen. Es gab Momente zum Nachdenken, zum Lachen, zum Traurigsein und „Sich-Selbst-Entdecken“, es gab vollen Einsatz des gesamten Kurses, Überraschungen und angenehm „unperfekten“ Charme. Vielen Dank dafür!

Vielen Dank auch an alle anwesenden Zuschauerinnen und Zuschauer, die zusammen eine Spendensumme von 334 Euro zusammenbrachten (nach dem Wunsch des Kurses an Unicef und die Aktion „Deutschland hilft“ für Kinder in der Ukraine gespendet). Dass diese sehr erfreuliche Summe nun denjenigen zu Gute kommt, die in diesen Tagen besonders unter Flucht, Gewalt und Krieg leiden, darf alle Beteiligten stolz machen – genau wie die überwiegend hervorragenden Leistungen im Prozess dieses Stücks! Es hat Spaß gemacht!

Michael Eichinger